Ein Bericht von Stefanie Dibbern und Jürgen Maßheimer aus Nizza.
Die ausländischen Läufer erkannte man an der Reizwäsche. Während die locals sich im Schneeregen mit langen Hosen und Jacken, sogar in Daunenjacken, in die Startblöcke fädelten, froren die internationalen Eliteläufer (Siegerzeit) und die ahnungslosen Lauftouristen mit Flatterhöschen und Achselshirt im Schneeregen.
Jürgen und ich suchten unter den hohen Palmen etwas Trost und Schutz, aber im Gegensatz zu unseren heimischen Laubbäumen leiten Palmen den Regen nicht nach aussen, sondern nach innen, cést logique, non? “Heute duschen wir eben mal vor dem Lauf”, tröstete sich ein Starter. “Regalez -vous, beschenken Sie sich mit einem wunderbaren Lauf durch diese Stadt” – der Start verzögerte sich immer weiter, alle froren und hampelten auf der Stelle.
Der Moderator redete sich den Wolf, spielte erst lokales Liedgut wie die La Nissarda, dann die stark blutrünstige französische Nationalhymne, aber selbst das brachte nach einer halben Stunde des Wartens in der Kälte die Läufer nicht mehr auf frohe Gedanken. “Im Bereich des Hafens steht ein verdächtiges Auto, welches erst neutralisiert werden muss”…wie neutralisiert man eigentlich ein Auto? Wird es kontrolliert gesprengt? Über die Sicherheit hatten wir uns vorher absichtlich keine langen Gedanken gemacht, fingen aber damit jetzt recht intensiv an.
— Der Start kam ohne Vorwarnung. Im Gegensatz zu Mittel- und Nordeuropa rennen hier alle los, als gäbe es kein Morgen, und ich wurde durch das schweigend-hochmotivierte vordere Mittelfeld in die kommunikative Zone der Sprücheklopfer bis fast an den Besenwagen durchgereicht. Entlang der Promenade des Anglaises, vorbei am berühmten Hotel Negresco mit seiner Zuckerbäckerarchitektur (Zimmer ab 400 €), ein paar scharfe Kehren, über die carrelage-Pflasterung der Fussgängerzone und zum Vieux Port, wo eine häuserblockgrosse Yacht neben der nächsten liegt.
Es war erst km 8 und so war ich noch emotional in der Lage, mich über ordinären Reichtum und das Kapital und überhaupt aufzuregen, was sich aber in der nachfolgenden Steigung schnell gab, zumal es eh nur kulturlose Plastikschiffe sind. Die Streckenführung und das Wetter erinnerten stark an den Famila Kiel-Marathon Ende Februar, zweimal hin und zurück an der Promenade, das wäre einfacher und billiger gewesen, aber ohne Palmen, Aloen, Oliven und Lavendel und ohne meine geliebten Berge. “Terra amata” ist auch der alte Name der Region.
Die Kilometer bis zur letzten Wende auf der Promenade des Anglaises bei km 16 beschenken einen vor allem mit müden Beinen, die Strasse ist gesperrt und wundersamerweise auch komplett von parkenden Autos geräumt – in Nizza herrscht ansonsten verkehrstechnisch die absolute Kernschmelze und Radfahren wäre ein schneller, aber vermutlich unangenehmer Tod. Auch in meinem hinteren Mittelfeld hat das grosse Sterben angefangen, doch nach der Wende stehen sie auf einmal da – tief verschneite Berge, frisch gefallener Schnee neben einem graublauen Meer mit hoher schäumender Brandung auf schlirrenden groben Kies. Die Alpen stürzen bei Nizza jäh und unvermittelt in Mittelmeer. Die letzten 5 km waren lang und kalt und im Ziel gab es Küsse und Kuchen. Beides hätte man wohl auch ohne 21,1 km haben können, bloß ohne Medaille.
Da wir sie nun schon mal um den Hals hatten, führten wir sie standesgemäß – nach dem Umziehen- aus: Ins Nationale Sportmuseum. Französische Museen sind immer monumental, maximal digital, bombastisch, le top du top. Wer den Sport der Sache wegen und nicht wegen einem straffen Po liebt, der findet hier die heiligen Sakramente des Sports, wie das erste (handgestrickte!) Gelbe Trikot der Tour de France von 1903, Holzski ohne Stahlkante und Lederriemenbindung, mit denen jemand 150 km/h erreicht hat, einen irgendwie ganz wichtigen Fußball, Fahrräder mit Raketenantrieb und auch sonst viel Erstaunliches zum sportlichen Willen, Erfindergeist und Durchhaltevermögen. Dagegen sind die 21,1 km ….geschenkt.